Ernst Tugendhat ist tot


ZEIT: Nicht Sein, sondern Sprache

Ernst Tugendhat hat die Sprache ins Zentrum all seiner Überlegungen zum Menschsein gestellt. Nun ist der große Philosoph im Alter von 93 Jahren gestorben. Ein Nachruf

Von Thomas Assheuer

13. März 2023

https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Tugendhat

Philosoph Ernst Tugendhat gestorben

Er galt als einer der wichtigsten Philosophen der Gegenwart. Nun ist Ernst Tugendhat im Alter von 93 Jahren gestorben.

  1. März 2023, 14:50 Uhr Quelle: ZEIT ONLINE, dpa, KNA,

Der Philosoph Ernst Tugendhat ist tot. Er starb im Alter von 93 Jahren in Freiburg im Breisgau, teilte sein Sohn der Nachrichtenagentur dpa mit. Tugendhat galt als einer der wichtigsten Philosophen der Gegenwart, vor allem auf dem Gebiet der Analytischen Sprachphilosophie.

Geboren wurde er 1930 in Brünn (heute Brno in der Tschechischen Republik). Die Familie floh 1938 vor den Nationalsozialisten – zuerst in die Schweiz, später nach Südamerika. Nach dem Krieg studierte Tugendhat an der Stanford-Universität in Kalifornien Klassische Philologie. Zum Studium der Philosophie Martin Heideggers kam er 1949 nach Europa zurück.

Freiburg, Tübingen, Heidelberg, Max-Planck-Institut Starnberg, Freie Universität Berlin – das waren seine wichtigsten Stationen, bis er 1992 wieder nach Südamerika ging, um in Santiago de Chile zu lehren. Seinen Lebensabend verbrachte er zunächst in Tübingen, dann in Freiburg.

Einige von Tugendhats Vorlesungen gingen in die Geschichte der Philosophie ein. So etwa jene zur Einführung in die Analytische Sprachphilosophie. Anfang der Siebzigerjahre hatte Tugendhat damit die angelsächsisch-analytische Schule mit der kontinental-europäischen Metaphysik und Transzendentalphilosophie vermittelt.

Eine philosophische Existenz. Autonomie und Gerechtigkeit – zum 90. Geburtstag von Ernst Tugendhat Von Jürgen Habermas Aktualisiert am 8. März 2020

Wahrheit und Selbstbestimmung Zum Tod von Ernst Tugendhat Von Gertrud Nunner-Winkler aus literaturkritik.de

Ernst Tugendhat verbrachte seine Kindheit in der Villa Tugendhat, die Mies van der Rohe 1929/30 in Brünn (CZ) für seine Eltern erbaut hatte und die 2001 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Er wuchs in lichtdurchfluteten, weiten Räumen auf, in denen – so seine Mutter – „die Blätter und Blüten wie Solitäre sich vom Hintergrund abheben“ und sich auch „der Mensch für sich und die anderen klarer aus seiner Umwelt heraushebt“; wo sie empfindet: „Das ist Schönheit – das ist Wahrheit.“ Darin klingen die Leitlinien des Tugendhat’schen Denkens an: Selbstbestimmung und das unablässige Streben nach Klarheit und Wahrheit. 1938 emigrierte die jüdische Familie zuerst in die Schweiz, dann nach Venezuela. Tugendhat studierte zunächst in Stanford Klassische Philologie. 1949 ging er nach Deutschland. Er wollte Heidegger hören, den seine Mutter ihm schon als Jugendlichem nahegebracht hatte. Auch wollte er seiner überzeugten Ablehnung jeglicher Kollektivverurteilung Ausdruck verleihen. Er arbeitete über aristotelische Grundbegriffe sowie den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Ein Aufenthalt in Minnesota leitete seine ,sprachanalytische Wende’ ein. Er war der erste, der diese Denkweise in den deutschsprachigen Raum brachte. Zunächst lehrte er in Heidelberg. Von 1975 bis 1980 arbeitete er auf Einladung von Jürgen Habermas am Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Er folgte dann einem Ruf an die Freie Universität Berlin. Anfang der 90er Jahre verließ Tugendhat Deutschland und ging nach Südamerika, Tschechien und Israel – in der Sehnsucht nach mehr Offenheit und Herzlichkeit, wohl auch auf den Spuren der Vergangenheit und auf der Suche nach einer lebbaren Zukunft. Er ging, auch weil er – in Zeiten tiefer Verzweiflung – meinte, den ersten Schritt nach Deutschland aufheben zu sollen: Hatte, wer vom Holocaust nicht selbst so vernichtend betroffen war, das Recht, sich den Gestus des Verzeihens anzumaßen? Doch schließlich kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebte zunächst in Tübingen und seit 2013 in Freiburg im Breisgau.

Ernst Tugendhats Geschäft war die Philosophie. Er verstand darunter nicht den Griff in die „bildungsphilosophische Mottenkiste“, nicht „die Berufung auf große Namen“. Für ihn bedeutete Philosophie, „dass man einen Dialog erstrebt, in dem es um größtmögliche gegenseitige Wahrhaftigkeit geht, d.h. um größtmögliche intersubjektive Rationalität.“ Rationalität ist notwendig intersubjektiv, „weil wir nur, wenn wir uns den Gegengründen der anderen Seite aussetzen, die Triftigkeit und das Gewicht der eigenen Gründe ermessen können“.

Eine ganze Generation von Kollegen und Schülern hat er maßgeblich beeinflusst und geprägt. Seine Wirkung ging nicht nur von der Bedeutung und weiterführenden Klärung der behandelten Fragen aus, sondern auch von seiner Person selbst. Mit unbestechlicher Sachbezogenheit deckte er Argumentationsschwächen schonungslos auf – auch bei Freunden und eigenen früheren Arbeiten. Mit hohem persönlichem Einsatz hat er sich auch politisch engagiert – in der Friedensbewegung, in Fragen des Asylrechts, bei der ‚Gesellschaft für bedrohte Völker’. Als ihm 2005 der Meister-Eckhart-Preis verliehen wurde, spendete er das Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro für eine Schule im palästinensischen Autonomiegebiet.

Als Philosoph gewann Tugendhat weltweite Bedeutung nicht nur auf Grund seiner eigenen Weiterentwicklungen innerhalb der sprachanalytischen Philosophie, sondern auch, weil er deren Methode so überzeugend zur Klärung traditioneller philosophischer Grundfragen einzusetzen verstand, weil es ihm nie um Präzision allein, sondern immer um wesentliche Inhalte ging. Einige Beispiele mögen dies zeigen:

Wie ist der Wahrheitsbegriff (jenseits rein logischer Aussagen) zu verstehen? Ihn pragmatistisch auf Nützlichkeit zu reduzieren, geht schon sprachlogisch nicht: ‚Nützlich‘ ist ein zweistelliges Prädikat: ‚X ist nützlich für A’. ‚Wahr‘ hingegen ist einstellig. Und die Frage: ‚Ist X wirklich nützlich für A?‘ ist selbst wieder eine Wahrheitsfrage. Auch wer Wahrheit allein auf die Zustimmung aller zurückführen wollte, geht fehl: Konsens ist die Folge richtiger Erkenntnis, nicht ihr Kriterium. Ebenso greift der ausschließliche Bezug auf die innere Stimmigkeit aller Aussagen eines Theoriesystems zu kurz – ist darin doch die Erfahrung als Instanz ausgeschlossen. Eine befriedigende Erklärung von ‚wahr‘ muss „eine Anzeige enthalten, wie man die Aussage als wahr erkennen kann“. Ein (über die Analyse der Verwendungsregeln von Begriffen vermittelter) Bezug zur Wirklichkeit ist unverzichtbar. Wer sich also – so lässt sich folgern – modisch einem radikal-konstruktivistischen Denken gänzlich verschreibt, hat schon von vornherein den Anspruch auf die Wahrheitsfähigkeit seiner Behauptungen preisgegeben.

Oder: Was ist personale Identität? Der Begriff hat zwei Verwendungsweisen: Zum einen bezeichnet er die unverwechselbare Individualität einer Person (‚Das ist Herr A.‘), zum anderen ihre Bestimmung durch allgemeine Merkmale (‚A ist Wissenschaftler.‘). Diese beiden Bedeutungen werden häufig vermischt. Dahinter verbirgt sich ein sachliches Problem: der Glaube, die Identität einer Person gründe im Besitz einzigartiger Merkmale. Wer nach solchen strebt, „bringt einen sachfremden Faktor in die Frage ‚Was für ein Mensch will ich sein?‘“. Es geht ihm nicht um die Frage „wie es am besten stünde mit seiner Existenz“, sondern nur darum, „sich von anderen zu unterscheiden.“ Wer sich aber ausschließlich daran orientiert, wie er sich von anderen abgrenzen, aus der ‚Masse‘ heraustreten kann, macht sich gerade dadurch abhängig vom Denken, vom Tun und Lassen der anderen. Damit wird Selbstbestimmung, die als „begründetes Sichzusichselbstverhalten“ den Kern personaler Identität ausmacht, verfehlt.

Schließlich: ‚Unsere Angst vor dem Tod‘ (Vortrag Siemensstiftung 2003). Wovor fürchten wir uns? Wir fürchten uns nicht vor unserer Sterblichkeit per se – wir wären ja ständig in Angst. Wir fürchten uns, wenn der Tod kurz bevorsteht. Vor was fürchten wir uns dann? Vor dem Nichts – wie Heidegger sagt? Aber wir kommen aus dem Nichts, das uns nicht erschreckt. Warum sollte uns das künftige Nichts erschrecken? Vor dem Tod? Aber der Tod ist nichts, was nach dem Leben kommt – der Tod ist das Ende des Lebens. Vor dem Verlust des Lebens? Diese Redeweise ist schief. Wenn wir etwas verlieren – Besitz, nahestehende Personen – sind wir immer noch da. Aber wenn das Leben aufhört – und das ist die angemessene Beschreibung – sind wir nicht mehr da. Immerhin eröffnet die Rede vom Verlust Vergleichsmöglichkeiten: Der Verlust des Lebens kann gegen den Verlust anderer Werte – etwa Freiheit, etwa das Leben anderer – abgewogen werden. Und warum fürchten wir das Ende des Lebens? Da ist zum einen die vegetative Todesangst, wie sie auch das Kalb empfindet, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie ist funktional für das Überleben der Gattung, insofern sie den Umgang mit Gefährdungen steuert. Zum anderen ist da das Erschrecken über ein vertanes Leben – die Furcht, nicht richtig gelebt zu haben. Was kann man tun? Rein intellektuell ist die Furcht nicht zu beseitigen. Nötig ist eine Änderung der Haltung. Als sprachbegabte, bewusstseinsfähige Wesen können wir in Abstand treten zu unseren Affekten. Wir können sie objektivieren und im Blick auf anderes, was uns wichtig ist, relativieren. Im Angesicht des Todes können wir sie allerdings nicht mehr in Bezug auf unsere weiteren Belange oder künftige Ereignisse relativieren. Es gilt, das Selbst zu relativieren, also nicht das Ich als letzten Bezugspunkt zu begreifen. Relativ zur Welt bin ich unwichtig. Mit meinem Tod hört meine subjektive Welt auf – aber die objektive Welt bleibt bestehen. Und die ist auch meine Welt. In seinem letzten Gedicht hat Brecht 1956 dieser Haltung Ausdruck verliehen. Er entkräftet die Todesfurcht nicht allein intellektuell. Er erkennt sich zur objektiven Welt zugehörig und vermag so die Todesfurcht zu besiegen.

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité
Aufwachte gegen Morgen zu
Und die Amsel hörte, wusste ich
Es besser. Schon seit geraumer Zeit
Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts
Mir je fehlen kann, vorausgesetzt
Ich selber fehle. Jetzt
Gelang es mir, mich zu freuen
Alles Amselgesanges nach mir auch.

Am 13. März 2023 ist Ernst Tugendhat im Alter von 93 Jahren gestorben.

Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Essay handelt es sich um eine von der Rezensentin aktualisierte und erweiterte Version ihrer Gratulation zum 70. Geburtstag von Ernst Tugendhat (8.3.2000), die im Feuilleton der SZ erschienen ist.

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